PSYCHOLOGISCHE SICHERHEIT IN ORCHESTERN UND ANDEREN KULTURELLEN EINRICHTUNGEN
Was hat das alles mit dem schweren Flugzeugunglück in
Los Rodeos auf Teneriffa 1977 zu tun?

Seit einiger Zeit schon möchte ich über ein Konzept schreiben, das ich aus dem privaten Wirtschaftssektor kenne, das aber unter Kulturschaffenden und in kreativen Betrieben kaum thematisiert wird: die psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz.
Ein Arbeitsplatz ist dann psychologisch sicher, wenn Mitarbeitende wissen, dass sie ihre Meinungen, Ideen und Bedürfnisse frei äußern können, ohne Angst vor Repressalien haben zu müssen. Ebenso wissen sie, dass sie Risiken eingehen, Fehler machen oder sogar scheitern dürfen, ohne dafür verletzende Kommentare über ihre Leistung zu bekommen. In psychologisch unsicheren Arbeitsumgebungen fühlen sich Menschen durch zwischenmenschliche Ängste blockiert. Kurz gesagt: In psychologisch sicheren Unternehmen fühlen sich Mitarbeitende wohl, sie selbst zu sein und sich mitzuteilen.
Wenn man bedenkt, dass ein solches Klima der Schlüssel zu Innovation, Kreativität, Produktivität und effektiver Zusammenarbeit ist, frage ich mich: Wie kann es sein, dass gerade im Kulturbereich – per Definition ein kreativer Bereich – so wenig darüber gesprochen wird?
Gerade in Kulturunternehmen und Orchestern sollte psychologische Sicherheit eine zentrale Rolle spielen, denn dort arbeiten hochqualifizierte Fachkräfte, die mit komplexen Direktionsstrukturen und permanentem Leistungsdruck konfrontiert sind. In Orchestern und kulturellen Betrieben herrscht oft eine stark ausgeprägte Hierarchie, in der die Autorität des künstlerischen Leiters oder des Stimmführers praktisch unangreifbar ist. Ich spreche aber nicht nur von Dirigenten, sondern auch von jahrzehntelang unveränderten Arbeitsabläufen, die – meist aus Bequemlichkeit – niemand in Frage stellt. Ich spreche hier vor allem und auch von mittlerem Management und technischen Leitungen, die ihre Mitarbeitenden erdrücken. Und vor allem spreche ich von Kolleginnen und Kollegen – im Orchester wie in der Verwaltung –, die andere ausschließen oder abwerten, weil diese kreativer oder initiativer sind als sie selbst.
Das alles erschwert jede Bewegung in Richtung einer offenen, sicheren Unternehmenskultur. Der Druck, künstlerisch herausragende Ergebnisse zu liefern, führt zusätzlich zu einem Klima, in dem sich Musikerinnen und Verwaltungsmitarbeitende nicht trauen, ihre Bedenken zu äußern oder Fehler einzugestehen – aus Angst vor Abwertung oder Ausschluss. Es entsteht ein emotional belastendes Umfeld, in dem Menschen unter hohen Erwartungen und ständiger Anspannung leiden – oft bis zur Erschöpfung.
Ich bin überzeugt: Die Angst, beurteilt oder abgelehnt zu werden, mag kurzfristig als Motivationsfaktor wirken – ist aber langfristig kein Weg zu kreativen, effizienten und exzellenten Ergebnissen. Eine Führungskultur, die auf emotionalen oder hierarchischen Sanktionen basiert, wird früher oder später jede Organisation blockieren.
Das „Ich bin lieber still – sicher ist sicher“ kann tödlich enden
Tatsächlich hat der Mangel an psychologischer Sicherheit in Unternehmen bereits schwerwiegende Schäden verursacht – für Firmen, Mitarbeitende und sogar Unbeteiligte. Wie Amy Edmondson in ihrem Buch Die angstfreie Organisation – Wie Sie psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz für mehr Lernen, Innovation und Wachstum schaffen, eindrücklich schildert, hat die Angst, das Offensichtliche auszusprechen, sogar schon Menschenleben gekostet.
Edmondson analysiert viele Fälle von Unternehmensversagen aus der Perspektive der psychologischen Sicherheit. Dabei zeigt sie, wie schon ein kleines bisschen Zivilcourage – das Aussprechen unbequemer Wahrheiten auf verschiedenen Hierarchieebenen – schwerwiegende technische oder menschliche Fehler zumindest abgemildert hätte.
Sie beschreibt zahlreiche bekannte Fälle, in denen ein psychologisch unsicheres Arbeitsumfeld eine tragende Rolle gespielt hat. Drei davon möchte ich nennen: der Dieselgate bei Volkswagen [1], die Columbia-Katastrophe der NASA im Jahr 2003 [2] – und das Flugzeugunglück der KLM 1977 auf Teneriffa [3].
Edmondsons Buch ist wärmstens zu empfehlen. Für meine Blogleser habe ich speziell zum Fall Los Rodeos recherchiert. Zwei Boeing-747-Flugzeuge der Fluggesellschaften KLM und Pan Am kollidierten bei Start und Landung – durch eine Reihe von Kommunikationsfehlern und dichten Nebel. 583 Menschen kamen ums Leben.
In den Tonbandaufzeichnungen aus dem Cockpit ist zu hören, dass der Erste Offizier eines der Flugzeuge bemerkte, dass die Maschine zu schnell beschleunigte. Er warnte den Kommandanten, wurde jedoch unwirsch abgewiesen. Wenige Minuten später fragte man die Flugleitung nach Startfreigabe. Diese antwortete mit einer Wegbeschreibung, nachdem die Maschine abgehoben hätte – verwendete dabei aber das Wort „takeoff“. Eine eindeutige Startfreigabe war das nicht. Der Erste Offizier, noch verunsichert vom vorherigen Konflikt, sagte nichts. Niemand sagte: „Wir müssen noch auf die Freigabe warten.“ Und die Maschine startete – in den Tod.
Hätte der Erste Offizier in diesem Moment seinen Einspruch mit Nachdruck geäußert, wäre es nicht zur Katastrophe gekommen. Das Fehlen psychologischer Sicherheit war eine conditio sine qua non für diesen Unfall [4].
Natürlich habe ich die Ereignisse stark vereinfacht. Ich behaupte nicht, dass das Schweigen des Offiziers der einzige Grund war. Aber es ist klar: Ein klares Wort hätte den Verlauf dramatisch verändert. Wer sich weiter informieren möchte, findet bei der kanarischen Regierung offizielle Quellen [5].
Glücklicherweise sind wir im Kulturbereich selten solchen Lebensgefahren ausgesetzt. Aber ich habe dieses Beispiel gewählt, weil es bekannt ist – und zeigt, was täglich in tausenden Betrieben passiert: Mitarbeitende, die sich nicht trauen, mit ihren Vorgesetzten zu sprechen. Menschen, die Angst haben, ihre Meinung zu sagen. Das „Ich bin lieber still – sicher ist sicher.“
Wie schaffen wir psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz?
Die große Frage lautet also: Wie können wir in kreativen Betrieben ein Arbeitsklima schaffen, das sowohl den Anforderungen einer künstlerischen Leitung – die per se immer eine gewisse Autorität ausübt – als auch den Bedürfnissen der Mitarbeitenden gerecht wird? Und vor allem: Wie schaffen wir es, dass notwendiger Respekt gegenüber Vorgesetzten nicht zu einem Verlust an Kreativität und Effizienz führt?
Es gibt Werkzeuge aus dem Risikomanagement und Controlling, die dabei hilfreich sein können. Aber eigentlich spreche ich hier davon, psychologische Sicherheit zur Routine zu machen – indem wir unsere Kommunikationsprozesse und unsere Führungskultur bewusst verändern. Indem wir die „Kultur des Schweigens“ in der Organisation durchbrechen.
Übrigens: Diese Kultur hindert nicht nur am Reden – sondern auch am Zuhören. Menschen, die sich trauen, ihre Meinung zu sagen, werden oft als störend oder aufbrausend abgestempelt. Die dominante Kultur will die Botschaft gar nicht hören. Und ich weiß, wovon ich rede.
In den letzten Jahren ist im englischsprachigen Raum die Rolle des Chief Happiness Officer entstanden – jemand, der in einem Unternehmen Prozesse zur Verbesserung der Kommunikationskultur begleiten könnte. Aber was tun, wenn wir niemanden haben, der sich offiziell um das Arbeitsklima kümmert?
Vor allem sollten wir nicht denken, dass es nur ein Führungsproblem sei. Ganz und gar nicht.
Jede und jeder von uns kann dazu beitragen, dass sich Menschen am Arbeitsplatz frei fühlen, Teil des Teams zu sein, bedeutsame Beziehungen aufzubauen, sinnvolle Arbeit zu leisten, Zweifel und Ängste zu äußern – ohne gleich negativ abgestempelt zu werden. Oft beginnt das schon bei unserem Verhalten gegenüber Kolleginnen und Kollegen. Manchmal reicht es, sich zurückzunehmen – nicht vorschnell zu urteilen, keine Meinung zu äußern, ohne beide Seiten gehört zu haben, und schon gar nicht Gerüchte zu verbreiten.
Jeder kann offen, ehrlich und mutig auf Kolleg*innen zugehen – im Wissen, dass alle sich in unterschiedlichen Entwicklungsphasen befinden und verschiedene Rollen einnehmen. Wir müssen uns unseren Gesprächspartnern anpassen – ohne dabei unsere eigene Stimme zu verlieren.
1. „Ich weiß es nicht.“ „Ich brauche Hilfe.“ „Ich habe einen Fehler gemacht – es tut mir leid.“
Drei kurze Sätze, die heute in Büros kaum noch gesagt werden. Nicht alles zu wissen ist menschlich – nicht einmal die brillanteste Führungskraft weiß alles. Wir alle brauchen manchmal Hilfe. Und natürlich machen wir alle Fehler – egal, wie souverän wir uns geben. Diese einfachen Sätze auszusprechen, wann immer sie angebracht sind, würde die zwischenmenschliche Beziehung am Arbeitsplatz enorm verbessern. Ich könnte einen ganzen Artikel nur darüber schreiben.
2. Konflikte mit Kolleg*innen oder Vorgesetzten sind nicht per se schlecht
Ich bin überzeugt: Die besten Beziehungen im Berufsleben entstehen oft nach einem Konflikt. Ja, Auseinandersetzungen sind unangenehm – aber sie bringen Verständnis und Wachstum. Wenn wir sie als Chance begreifen, kommen wir einander näher. Wenn wir unsere Perspektive ändern, können wir dem nächsten Konflikt mit mehr Gelassenheit begegnen.
Die Menschen, die mich im Berufsleben auf lange Sicht am treuesten unterstützt haben, waren nicht meine „Fans“ von Anfang an. Es waren oft jene, die mir zunächst misstrauten, mich herausforderten oder mir das Leben schwer machten.
Erst im Konflikt lernen wir einander wirklich kennen. Kennen Sie den Spruch: „Den Bruder erkennt man beim Erbe, den Ehepartner bei der Scheidung, und die Kinder im Alter“?
Genau so ist es. Und wenn wir uns wirklich kennen, können wir als Team zusammenwachsen. Davor nicht. Es hängt alles davon ab, wie wir mit Konflikten umgehen.
Ja, ich geb’s zu: Auch darüber könnte ich einen eigenen Artikel schreiben.
3. Scheitern gehört zum Erfolg
Wirklich erfolgreiche Menschen wissen: Scheitern ist Teil des Erfolgsprozesses. Niemand erreicht den Gipfel, ohne sich zu verlaufen oder die falschen Schuhe zu tragen. Niemand.
Doch unsere Gesellschaft definiert Scheitern nach dem Wörterbuch – und das ist ein großer Fehler. Scheitern ist keine Niederlage beim Lernen, sondern ein integraler Bestandteil davon. Wir müssen lernen, das Scheitern neu zu definieren, zu normalisieren, zu entmystifizieren. Bitte: Geben Sie sich selbst die Erlaubnis zu scheitern. Es ist der einzige Weg zum Erfolg.
4. Immer produktiv antworten
Und wenn wir bereits im Konflikt sind? Dann sollten wir – nach aufmerksamem Zuhören – produktiv antworten. Das heißt: keine Vorwürfe oder Anschuldigungen, sondern Fragen wie „Was bringt dich zu dieser Meinung?“ oder „Wie fühlst du dich, wenn du das sagst?“ So lenken wir den Fokus zurück auf die Emotionen unseres Gegenübers. Denn selten streiten wir wirklich über das, was uns beschäftigt – Konflikte sind meist ein Vorwand, um nicht zeigen zu müssen, was wirklich in uns vorgeht [7].
Auch ein gutes Thema für eine Masterarbeit.
5. Dankbarkeit zeigen
Man kann gar nicht oft genug Danke sagen. Für ein Klima psychologischer Sicherheit sind kleine Gesten der Dankbarkeit im Kollegium enorm wichtig:
Danke, dass du es beim Namen genannt hast.
Danke, dass du gesprochen hast.
Danke für deine Ehrlichkeit.
Danke für deine Geduld.
Danke für deine Hilfe.
Danke für deine Offenheit.
Danke, dass du da bist.
Danke.
6. Veränderung ist etwas Positives
Das Einzige, was im Leben sicher ist, ist die Veränderung.
Deshalb schlage ich vor, unsere Haltung zu Verantwortung im Berufsalltag zu überdenken. Allzu schnell urteilen wir über vermeintliche Inkompetenz – ohne zu erkennen, dass vielleicht das System zu komplex war, dass keine klaren Prozessstrukturen definiert waren oder die Führungsetage keine ausreichende Anleitung gegeben hat.
Ich habe das bereits in einem früheren Artikel thematisiert: Bitte lasst uns nicht vorschnell urteilen. Lieber erst fragen [8].
7. Informationen und Wissen teilen
Was mir gehört, gehört mir. Was mir nicht gehört, wird nie mir gehören. So einfach ist das.
Aus Angst, eine Kolleg*in könnte uns den Job „wegnehmen“, Informationen oder Wissen zurückzuhalten – das ist absoluter Unsinn. Gerade wenn wir ein sicheres Arbeitsumfeld schaffen wollen, ist es wichtig, Erfolge und Informationen zu teilen.
Im Kulturbereich habe ich oft erlebt, wie Informationen bis zur Absurdität zurückgehalten wurden. Das hat das Team behindert – aber niemanden geschützt. Wenn wir Sicherheit für uns wollen, müssen wir auch Sicherheit für andere schaffen. Teilen und Helfen sind dafür zentrale Mittel.
Und nein – ich spreche hier natürlich nicht von vertraulichen Informationen. Das versteht sich von selbst.
8. Neugier, Mitgefühl und Engagement für mein Gegenüber
Die drei „C“ (nach den Anfangsbuchstaben der englischen oder spanischen Begriffe) der guten Kommunikation: Curiosity, Compassion, Commitment – auf Deutsch: Neugier, Mitgefühl und Engagement sind für das Miteinander unendlich wichtig. Mit ihnen kann man Menschen beeinflussen und motivieren.
Wenn wir Menschen mit Neugier begegnen – wissen wollen, wer sie sind, was sie denken, was sie fühlen –, öffnen sich Türen. Wenn wir mit Mitgefühl handeln (denn bald werden wir selbst darauf angewiesen sein) und uns engagiert zeigen, entstehen sichere Bindungen. Diese wiederum sind das Fundament für psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz – und sie brauchen keinerlei Eingriff vonseiten des Managements. Hier kann jeder seinen Teil zum Team beitragen.
Zum Schluss: Natürlich braucht es für eine echte Veränderung des organisationalen Wohlbefindens das Management. Mitarbeitende können viel beitragen – aber ein psychologisch sicheres Klima können sie nicht allein schaffen. Es ist ein langer Prozess. Die Leitung muss den Boden bereiten – bevor Mitarbeitende eingeladen werden, sich einzubringen.
Aber auch das ist Stoff für einen eigenen Artikel.
Und schon wieder habe ich das gesagt. Wie oft habe ich mich heute wiederholt? Also dann, mit einem Augenzwinkern, verabschiede ich mich – bis zum nächsten Beitrag.
Nicole Martín Medina
Juni 2025
Las Palmas de Gran Canaria
(Original auf Spanish/ Übersetzung ChatGPT/ Revision NMM)
******
HINWEIS:
Dieser Artikel ist auch verfügbar auf
SPANISCH (Original): https://nicolemartinmedina.com/disarmonia-en-la-sinfonia-parte-4/
ENGLISCH:https://nicolemartinmedina.com/en/disharmony-in-the-symphony-part-4/
FOOTNOTEN:
[1] Ewing, J. – “Volkswagen CEO Martin Winterkorn Resigns Amid Emissions Scandal” – The New York Times, 23. Sepiembre 2015 https://www.nytimes.com/2015/09/24/business/international/volkswagen-chief-martin-winterkorn-resigns-amid-emissions-scandal.html
[2] Bohmer, R.M.J., Edmondson, A.C., Roberto, M.A., Feldman, L., & Ferlins, E. (2004). Columbia’s Final Mission. Harvard Business School Case 304-090. (Überprüft im Mai 2010). https://hbsp.harvard.edu/product/304090-PDF-ENG
[3] Regierung der Autonomen Region der Kanarischen Inseln: https://www.transportes.gob.es/organos-colegiados/ciaiac/publicaciones/informes-relevantes/accidente-ocurrido-el-27-de-marzo-de-1977-aeronaves-boeing-747-matricula-ph-buf-de-klm-y-aeronave-boeing-747-matricula-n736pa-de-panam-en-el-aeropuerto-de-los-rodeos-tenerife-islas-canarias
[4] Air Line Pilots Association – Appendix 6 of the Research Report “AirCraft Accident report : Human factors report on the Tenerife accident” https://www.vliegrampfaro.nl/wp-content/uploads/2020/02/1978-ALPA-Human-Factors-report-on-KLM-crash-Tenerife.pdf
[5] Regierung der Autonomen Region der Kanarischen Inseln: bitte bechachten Sie FN nº 3
[6] Teresa Trejo, Chief Happiness Officer: Was sind seine Funktionen (nur auf Spanisch) – https://edem.eu/el-rol-del-chief-happiness-officer/
[7] Jefferson Fisher – The next conversation/ Argue less, talk more (2025), https://www.jeffersonfisher.com/book
[8] Bitte beachten Sie meinen Beitrag von April 2024: https://nicolemartinmedina.com/de/dis-harmonie-in-der-symphonie-teil-2/